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Ausstellung Raum 4

Wirklich sozial?

Wohnungsfrage

MARZAHN – DORF WIE GROSSSIEDLUNG, MARKANTER TEIL DER WOHNLANDSCHAFT DER METROPOLE BERLIN
Marzahn ist die größte Großsiedlung Berlins, ja ganz Deutschlands, und sie gehört auch zu den jüngsten. Zwischen 1977 und 1990 erbaut, umfasst sie etwa 62.000 Wohnungen in vornehmlich zehn- bis elfgeschossigen Gebäuden für heute etwa 100.000 Einwohner. Bereits im Wettbewerb Groß-Berlin wurden große Wohngebiete in der Gegend von Marzahn geplant und in der NS-Zeit weiter konkretisiert. Errichtet wurde 1936 ein „Zigeunerlager“, das größte in Deutschland. Marzahn ist aber auch ein uraltes, um 1230 gegründetes Angerdorf in unmittelbarer Nähe, das 1977 unter Denkmalschutz gestellt und ab 1982 saniert worden ist. Marzahn ist schließlich ein Berliner Bezirk, der 1979 neu geschaffen wurde und 2001 im Bezirk Marzahn-Hellersdorf aufging.
Foto Philipp Meuser, 2020

Groß-Berlin war von Anfang an ein Experimentierfeld unterschiedlichster Wohnungs- und Städtebaupolitiken, eine Bühne des Kampfes gegen die größte Mietkasernenstadt der Welt. Wohnungselend und Wohnungsknappheit begleiteten die gesamte Geschichte von Groß-Berlin. Von den 1880er bis zu den 1910er Jahren war im Rahmen privater und kommunaler Konkurrenz ein harter Gegensatz zwischen den übervölkerten Arbeiterquartieren auf der einen und den attraktiven Oberschichtsvierteln auf der anderen Seite entstanden. Nach 1920 legte sich eine weitere Schicht an Wohnungsbau neben das Berlin der Kaiserzeit: eine in sich wiederum äußerst widersprüchliche soziale Siedlungslandschaft unterschiedlichster Form und Trägerschaft, Ergebnis einer langen Periode öffentlich regulierten Wohnungsbaus. Nach dem Fall der Mauer gewann der private Wohnungsbau wieder an Gewicht – erstmals seit der Kaiserzeit.

Die Zahl fehlender Wohnungen vermehrt sich von Jahr zu Jahr.

Der gesamte jährliche Neubedarf muß demnach auf 40 000 veranschlagt werden.

Die jetzige Stadtverwaltung hat keine Schuld an dem Berliner Wohnungselend. Sie muß es als eine Tatsache hinnehmen, der schleunigst abgeholfen werden muß. […] Wohnungsnot und Wohnungselend zusammengenommen zeigen, daß der Wohnungsbau in Berlin eine der allerwichtigsten öffentlichen Aufgaben überhaupt ist.

Eine menschenwürdige Wohnung mit mäßigem Mietzins fördert den sozialen Frieden, den wirtschaftlichen Fortschritt, d. h. die Gesamtwirtschafts- und Kulturleistung eines Volkes.

Es genügt nicht, Wohnungen zu bauen; die Wohnungen müssen auch bezahlbar sein.

Gustav Böß, Oberbürgermeister 1919–1929
Berlin von heute.
Stadtverwaltung und Wirtschaft.
Berlin 1929

Weg mit der „Mietkasernenstadt“!

Platz frei für das Neue Berlin! Das war über Jahrzehnte die Losung von Stadtplanern, Architekten und Politikern aller Couleur, ein Programm, das die Wohnungslandschaft von Groß-Berlin grundlegend verändert hat. Ziel war die Beseitigung der dichten Innenstadt mit ihren Hinterhöfen, die nach Plänen von James Hobrecht aus dem Jahr 1862 und nach Regeln unterschiedlicher Bauordnungen um die alte Stadt angelegt worden war. Doch extreme Wohnungsknappheit und fehlende öffentliche Subventionen verhinderten zunächst Abrisse. Der Zweite Weltkrieg schuf erste Lücken. Schließlich war es 1963 in West-Berlin so weit: Das „Erste Stadterneuerungsprogramm“ konnte mit Geldern aus Bonn gestartet werden. Ein erstes Modellprojekt betraf das Gebiet um die Weddinger Brunnenstraße. Auf der anderen Seite der Mauer, im Ost-Berliner Bezirk Mitte, dauerte es noch ein wenig länger: Dort wurde ab 1970 das Gebiet um den Arkonaplatz erneuert oder rekonstruiert, wie das in Ost-Berlin hieß.

Das Innere eines entkernten Blocks im Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz, Mai 1984.
Gerhard Kiesling / Fritz Jahn: Berliner Farben. Leipzig 1987, S. 145

Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz

Das Rekonstruktionsgebiet Arkonaplatz lag unmittelbar auf der anderen Seite der Mauer im Ost-Berliner Bezirk Mitte. Als es von 1970 bis 1984 erneuert wurde, war die Abkehr von der Kahlschlagsanierung bereits westost- übergreifend im Gange.

Antworten auf die Mietkasernenstadt: Großsiedlungen

Große Wohngebiete eines sozial orientierten Wohnungsbaus prägen jede Metropole. Berlin ist berühmt für diesen Wohnungsbau, der seit der Schaffung von Groß-Berlin bis zum Ende der Teilung der Stadt vorherrschte. Allerdings gab es hier auch sehr große Unterschiede – in der städtebaulichen und baulichen Gestalt, in der Trägerschaft, in der Finanzierung, in der Produktion, in der Lage im Stadtraum, in der Belegung und damit auch in der Frage, wer denn solche Wohnungen beziehen darf. Denn sozialer Wohnungsbau bedeutete keineswegs immer: Wohnungsbau für „Minderbemittelte”.

Weimarer Republik:
Siedlung Neu-Tempelhof

Kolonnaden-Tor an der Paradestraße von Fritz Bräuning, 1920er Jahre.
40 Jahre Berlinische Boden-Gesellschaft. Berlin 1930, S. 85

Neu-Tempelhof war die erste große neue Siedlung der Weimarer Republik in Berlin. Ihr Bau wurde mit öffentlichen Mitteln unterstützt. Die vorstädtische idyllische, isolierte Siedlung war allerdings nicht für Bedürftige, sondern für Besserverdienende bestimmt.

Weimarer Republik: Wohnviertel um den Laubenheimer Platz

Ahrweiler Straße in sommerlicher Atmosphäre, koloriertes Schaubild um 1930.
40 Jahre Berlinische Boden-Gesellschaft. Berlin 1930, nach S. 118

Eines der größten Neubaugebiete der Weimarer Republik in Berlin mit über 1.700 Wohnungen ist zugleich eines der am wenigsten bekannten: die Fortsetzung des Rheinischen Viertels auf der Südseite des Südwestkorso in Wilmersdorf.

Weimarer Republik: Großsiedlung Britz

Bruno Taut und Martin Wagner: Lageplan der Hufeisensiedlung.
Akademie der Künste, Bruno-Taut-Nr. 0102-002

Die wohl bekannteste neue Siedlung der Weimarer Republik ist die „Großsiedlung Britz“. Auch diese öffentlich geförderten 2.900 Wohnungen waren für ungelernte Arbeiter unerschwinglich, sie dienten vor allem Angestellten und anderen Mittelschichten.

Weimarer Republik: Großsiedlung Schöneberger Südgelände

Großsiedlung Schöneberger Südgelände mit kleinem Lageplan des Areals, Zeichnung um 1928.
Universitätsarchiv der TU Darmstadt, Nr. 2006Z01952

Auf dem Schöneberger Südgelände war in der Weimarer Republik die größte Neubausiedlung geplant. Das 1927 vorgestellte privatwirtschaftliche Riesenprojekt für 15.000 Wohnungen scheiterte an vielfältigen Widerständen, nicht zuletzt an der lokalen Bauwirtschaft.

NS-Diktatur:
Megaprojekt Südstadt

Modellfoto der geplanten Südstadt, um 1941. Dort sollten auf 2.200 Hektar Wohnungen für 350.000 Menschen entstehen.
Schusev State Museum of Architecture, Moskau, Foto 094

Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde durch Generalbauinspektor Albert Speer eine gigantische Erweiterung Berlins geplant, die bis zum äußeren Autobahnring reichen und etwa 1,5 Millionen Einwohnern Raum geben sollte. Die Südstadt war Teil dieses Projekts.

West-Berlin:
Großsiedlung Märkisches Viertel

Senftenberger Ring, 16.09.1971. Ein „Hof“ im Märkischen Viertel.
Foto Horst Siegmann, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 149030

Das von 1963 bis 1974 gebaute Märkische Viertel (MV) war die ambitionierteste Großsiedlung West-Berlins. Viele Bewohner kamen aus den Sanierungsgebieten der Innenstadt. Ihre Miete stieg nach Umzug in die komfortableren Neubauwohnungen um das Zwei- bis Dreifache.

Ost-Berlin:
Siedlung Fennpfuhl

Wohnkomplex Fennpfuhl mit sozialer Infrastruktur, vor 1987.
Joachim Schulz / Werner Gräbner: Berlin. Architektur von Pankow bis Köpenick. Berlin 1987, S. 149

Der von 1970 bis 1980 errichtete Wohnkomplex Fennpfuhl gilt als erste komplex ausgestattete Großsiedlung Ost-Berlins. Für das Wohngebiet mussten Kleingartengebiete weichen. In Ost-Berlin waren die Großsiedlungen stärker sozial gemischt als in West-Berlin.

Wohnungsbau im Kalten Krieg

Der erste Kalte Krieg im Städtebau zwischen Ost- und West-Berlin fand auf dem Gebiet des Wohnungsbaus statt. Er war heftig, aber doch ein wenig anders als gern geschildert. Denn Ost-Berlin hatte zunächst die Nase vorn – was bis heute zumeist verdrängt wird: An der neuen Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, wurden ab 1951 Wohnpaläste nach Moskauer Vorbild in „nationaler Bautradition“ errichtet. In dieser Zeit war West-Berlin noch nicht voll handlungsfähig. Als Antwort wurde im Bezirk Wedding zunächst 1954 / 55 die bescheidene Ernst-Reuter-Siedlung gebaut und mit großem protokollarischem Aufwand eröffnet. Zur Einweihung kam sogar Bundespräsident Theodor Heuss. Erst 1957 war das Hansaviertel vorzeigbar, das heute gern als Parallelprojekt zur Stalinallee bezeichnet wird. In einem weiteren Schritt – nach der Wende in der Baupolitik in Moskau – errichtete Ost-Berlin von 1959 bis 1965 den zweiten Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee. Ein städtebauliches Pingpong über viele Jahre!

Stalinallee

Das Ost-Berliner Prestige-Projekt Stalinallee vom Strausberger Platz aus gesehen, errichtet ab 1951.

IRS (Erkner) / Wiss. Samml., Nr. 54
Foto Horst Siegmann, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290, Nr. 39795

Ernst-Reuter-Siedlung

Als Antwort auf die Ost-Berliner Stalinallee
realisierte West-Berlin 1954 / 55 die Ernst-
Reuter-Siedlung nahe der Sektorengrenze
im Bezirk Wedding.

Hansaviertel

Das 1957 realisierte Interbau-Vorhaben
Hansaviertel wird vielfach als Antwort
auf die Stalinallee angesehen.

Landesarchiv Berlin, F Rep. 251-02, Nr. 12847
IRS (Erkner) / Wiss. Samml., Slg. Kino Foto 12

Karl-Marx-Allee II

Zweiter Bauabschnitt der Karl-Marx-Allee, um 1964. Links die Mokka-Milch-Eisbar, rechts das Café „Moskau“. Zu dieser Zeit hatten sich die städtebaulichen Formen ost-west-übergreifend bereits stark angenähert.

Nach 1990: Von Kasernen zu Wohnstätten

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands waren die Erwartungen hoch: Berlin, so die Prognose, ja die Gewissheit, würde gewaltig wachsen. Daher wurden sehr viele Wohnungen in und außerhalb Berlins gebaut – zu viele, wie bald spürbar wurde, denn der große Einwohnerzuwachs blieb aus. 2002 wurde der Leerstand von vermietbaren Wohnungen in Berlin auf rund 120.000 geschätzt. Das ist heute schon wieder vergessen. Ebenso wie die großen Leistungen zur Instandsetzung und Verbesserung sowohl der Altbauquartiere wie der Großsiedlungen in Ost-Berlin in den frühen 1990er Jahren. Ab etwa 2007 stieg die Zahl der Einwohner wieder, zum Teil sehr stark. Wohnungen wurden wieder knapp, zunächst vor allem in der Innenstadt. Die „Miet­kasernenviertel“, die Krieg und Kahlschlagsanierung überstanden hatten, sind heute äußerst beliebt. Mieten und Wohnungspreise dieser höchst flexiblen Wohnungstypen explodieren auf breiter Front. Neue große Quartiere entstehen nur zögerlich – vor allem auf ehemaligen Gewerbe-, Eisenbahn- und nicht zuletzt Militärflächen. Kasernen werden so zu Wohnstätten – etwa in der sowjetischen Militärstadt in Karlshorst und in der US-amerikanischen Militärstadt in Zehlendorf.

Gartenstadt Karlshorst

Karlshorst war der wichtigste Standort der Roten Armee in Ost-Berlin. Das in nationalsozialistischer Zeit geschaffene Militärgebiet wurde nach dem Abzug des russischen Militärs 1994 nach längerer Unsicherheit in ein attraktives großes Wohngebiet verwandelt.

In dem Komplex der 1936 / 37 erbauten Festungspionierschule wurde 1945, vor 75 Jahren, die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht unterzeichnet. Die Bauten dienten nach dem Krieg kurzzeitig als Sitz der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und über längere Zeit als Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Heute befindet sich auf dem Gelände das Deutsch-Russische Museum.
Deutsch-Russisches Museum Karlshorst
Die zu einer Wohnanlage mit etwa 370 Wohnungen umgebaute ehemalige Pionierschule, 2020.
Foto Thomas Spier, apollovision
Wohnstraße der Gartenstadt Karlshorst, 2019. Die „Gartenstadt“ ist mit bis zu 1.300 geplanten neuen Wohnungen eines der großen Wohnprojekte des vereinigten Berlin. Sie entsteht seit 2010 nach einem Plan von Klaus Theo Brenner im Auftrag der WPK Grundstücksentwicklungsgesellschaft m.b.H. auf dem ehemaligen Militärgelände.
Foto Harald Bodenschatz

The Metropolitan Gardens

Das von 1936 bis 1938 erbaute nationalsozialistische Luftgaukommando III in Dahlem war bis 1994 das Hauptquartier der US-amerikanischen Armee in Berlin. Das Kasernenareal wurde ab 2010 zu einem Wohnquartier, den „Metropolitan Gardens“, umgebaut.

Wohnquartier „The Metropolitan Gardens“, 2020. Insgesamt sind etwa 290 Wohnungen entstanden.
Foto Thomas Spier, apollovision
Tiefgarageneinfahrt im Wohnquartier „The Metropolitan Gardens“, 2020.
Foto Thomas Spier, apollovision