Raum 3
Mitten allerorten
Zentrenfrage
Nach der Gründung von Groß-Berlin veränderte sich das System der Zentren grundlegend: Neben dem unbestrittenen Hauptzentrum zwischen Alexanderplatz und Reichstag gewann das aufstrebende Zentrum des Neuen Westens um die Kaiser-Wilhelm- Gedächtnis-Kirche an Bedeutung. Nach 1933 plante die nationalsozialistische Diktatur ein völlig neues Hauptzentrum westlich der Stadtmitte. Und im Zuge der Spaltung Berlins wurden zwei rivalisierende Hauptzentren ausgebaut: um den Alexanderplatz und um den Breitscheidplatz. Im Großraum Berlin gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aber auch außerordentlich viele mittlere, kleine und kleinste Zentren, zum Teil von hoher städtebaulicher Qualität. Etwa die Zentren von Lichterfelde West, Frohnau und Weißensee. Dazu kamen später weitere markante Zentren wie etwa am Hermannplatz, Fehrbelliner Platz und in Marzahn. Wie kaum eine andere Metropole Europas besitzt Berlin eine Vielfalt an Zentren.
Gustav Böß, Oberbürgermeister 1919–1929
Berlin von heute.
Stadtverwaltung und Wirtschaft.
Berlin 1929
“Altes und neues Berlin”
Mittelteil der Großbronze „Altes und neues Berlin“ mit Marienkirche, Fernsehturm und Alexanderplatz, Evelyn Hartnick-Geismeier, 1978. Ehemals am Berolinahaus befestigt, jetzt magaziniert.
Abstieg der Altstadt, Aufstieg des Neuen Westens
Während der Weimarer Republik veränderte sich die historische Mitte nur wenig: Neubauten waren selten, der Citybereich westlich des Schlosses hielt sich, die Altstadt östlich des Schlosses blieb aus der Sicht der Verantwortlichen ein Problem: Dort fanden sich enge Gassen, kleine Häuser und arme Einwohner – Verhältnisse also, die einer Weltstadt unwürdig schienen. Dagegen stieg ein Neuling unter den Zentren des Neuen Berlin auf, obwohl sich baulich dort auch nicht viel veränderte: das Zentrum des Neuen Westens. Dies alarmierte Unternehmer, Politiker und Stadtplaner: Durch einen Durchbruch breiter Straßen mit flächenhafter Kahlschlagsanierung sollte der weitere Abstieg der Altstadt gebremst werden. Die Neuordnung der Altstadt war das wichtigste Zentrumsprojekt von Groß-Berlin. Sie scheiterte jedoch, jedenfalls in der Weimarer Republik.
Glänzender Neuer Westen
Der Neue Westen war ein Gewinner- Standort von Groß-Berlin: Um die neoromanische Kaiser-Wilhelm- Gedächtnis-Kirche konsolidierte sich ein elegantes Laden- und Vergnügungsgebiet, das weiterhin auch ein – wenngleich teures – Wohngebiet blieb.
Stagnierende Altstadt
Die Altstadt, so die zeitgenössische Wahrnehmung, befand sich im Niedergang. Die Antwort darauf war das größte Zentrumsprojekt Groß- Berlins: die radikale Neuordnung der südlichen Altstadt. Der Umbau des Alexanderplatzes war Teil und Höhepunkt dieses Projekts.
Neue Zentren für Hitler und Stalin
Den nationalsozialistischen Machthabern erschien die historische Mitte zu armselig. Daher wurde eine neue Mitte geplant, außerhalb der alten Mitte. Diese Entscheidung ist bemerkenswert: Mussolini und Stalin ließen in den 1930er Jahren ihr neues Zentrum für Rom und Moskau innerhalb des alten Zentrums entwerfen. Alle drei Diktaturen planten aber einen dominanten Bau für ihr neues Zentrum, als städtebaulichen Taktstock der Hauptstadt, ja der gesamten Nation. Keines dieser Gebäude wurde realisiert. Nach dem Krieg sollte in Ost-Berlin in Anlehnung an die Moskauer Planung der 1930er Jahre ein sozialistisches Zentrum entstehen, ohne Schloss, aber mit einer weitgehenden Rekonstruktion der absolutistischen Bauten an der östlichen Allee Unter den Linden, vor allem aber mit einem alles beherrschenden Hochhaus für Partei- und Staatsorgane in der Altstadt. Auch dieser Bau wurde nicht verwirklicht.
Ein neues Zentrum im Westen der
historischen Stadtmitte
Das künftige Zentrum der Reichshauptstadt musste monumental und völlig neu sein. Es war als Kernstück der Nord-Süd-Achse geplant, die sich westlich der historischen Mitte zwischen einem Nord- und einem Südbahnhof erstrecken sollte.
Ein neues Zentrum in der historischen Stadtmitte
Nach der Spaltung Berlins rückte die historische Mitte an den Stadtrand des sowjetischen Sektors. Dennoch wurde sie als Zentrum auch einer sozialistischen Metropole bestätigt – betont durch ein Zentrales Hochhaus wie in Moskau geplant und in Warschau realisiert.
Zentrumsumbau im Kalten Krieg
Die sich bald nach Kriegsende abzeichnende und durch den Bau der Mauer betonierte Spaltung von Berlin führte zur Bildung von zwei Großstadtzentren, die sich in zwei zentralen Plätzen bündelten: im Alexanderplatz, dem Zentrum des Ostens, und im Breitscheidplatz, dem Zentrum des Westens. Beide waren Schaufenster ihrer Teilstädte, ihrer Systeme. In beiden Fällen war die Gestalt der Plätze zunächst noch nicht ganz klar, außer in einem Punkt: Sie sollte sich jeweils von der Gestalt vor dem Krieg radikal unterscheiden. Beide Plätze sind bedeutende Zeugnisse der autogerechten Stadt – Planungen fast aus einem Guss.
Alexanderplatz: Zentrum von Berlin, Hauptstadt der DDR
Der Alexanderplatz hatte sich durch den Umbau in der Weimarer Republik stark verändert. Nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erhielt er wiederum eine neue Gestalt, die aber die beiden von Peter Behrens 1929 entworfenen Neubauten Alexanderhaus und Berolinahaus integrierte.
Breitscheidplatz: Zentrum von Berlin (West)
Das Zentrum des Neuen Westens, nun zum Zentrum West-Berlins aufgestiegen, erhielt ebenfalls eine völlig neue Gestalt. An das alte Romanische Forum erinnert neben dem Kaisereck nur noch die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche.
Zwei zentrale Plätze im Strudel der Wende
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung Berlins rückte der Alexanderplatz ins Scheinwerferlicht, der Breitscheidplatz in den Schatten der Aufmerksamkeit. Für beide Plätze wurden Hochhausgruppen geplant, die sich über die vorhandene Bebauung hinwegsetzten, aber nur sehr zögerlich realisiert wurden. Beide Plätze leben weiterhin von ihren wichtigen Bahnhöfen, in deren Nachbarschaft sich ausgedehnte Freiräume befinden, über deren Gestaltung seit den 1990er Jahren gerungen wird.
Alexanderplatz:
Zentrum des Ostens
Nach dem Umbau gegen Ende der Weimarer Republik und dem Neubau in der DDR-Zeit wurde nach der Wiedervereinigung eine dritte, wiederum völlig neue bauliche Vision des Alexanderplatzes beschlossen.
Breitscheidplatz:
Zentrum des Westens
Nach dem Bau des Romanischen Forums in der Kaiserzeit und dem Neubau des West-Berliner Zentrums in den 1950er Jahren erhält die sogenannte City West derzeit eine dritte städtebauliche Form. Hier werden nun Hochhäuser gebaut, auf die am Alexanderplatz immer noch gewartet wird.
Seit der Kaiserzeit: Vielfalt an Zentren
Groß-Berlin war bis 1920 keine einheitliche Stadt, sondern eine Ansammlung von vielen Städten und Gemeinden. Jede dieser Kommunen hatte ihr eigenes Zentrum mitgebracht, einige sogar mehrere. Dieses Erbe ist heute unbezahlbar, eröffnet es doch die Chance für eine gewisse Dezentralisierung und damit eine nachhaltige Entwicklung. Nach 1920 wurde dieser Reichtum an Zentren weiter vermehrt – nicht immer mit langfristigem Erfolg. Einige dieser Zentren können internationale Aufmerksamkeit beanspruchen, finden aber in Berlin nicht die gebührende Wertschätzung.
Zentrum Lichterfelde West:
Urmodell eines suburbanen Zentrums
Der Platz vor dem Bahnhof Lichterfelde West ist vielleicht das erste planmäßig angelegte suburbane Nahversorgungszentrum dieser Art überhaupt, älter als das weit berühmtere Zentrum in Lake Forest nördlich von Chicago. Er funktioniert noch heute und erweist sich in Zeiten des Abschieds von der autogerechten Stadt als zukunftsweisend.
Gartenstadt Frohnau:
Gartenstadt-Mustermitte
Groß-Berlin besitzt einige suburbane Zentren an Vorortbahnhöfen von Rang. Neben dem Bahnhofsvorplatz von Lichterfelde West und dem Mexikoplatz zählt auch der Doppelplatz in Frohnau dazu, der hinsichtlich städtebaulicher Qualität zu den bedeutendsten suburbanen Zentren gerechnet werden muss.
Kommunales Forum Weißensee:
Ein kleiner See als Ortsmitte
Noch weniger bekannt ist ein weiterer Höhepunkt des Vorort- Zentrumsbaus im Großraum Berlin: das um 1910 um ein kleines Gewässer (Kreuzpfuhl) angelegte Kommunale Forum in Weißensee, das – allerdings letztlich vergebens – den Anspruch auf Stadtwerdung des Vorortes unterstreichen sollte.
Hermannplatz:
„Zentrum des Südens“ (Karstadt)
Auch in der dicht bebauten Hobrecht- Stadt entstanden auffällige neue Quartierzentren, so der Hermannplatz mit dem gewaltigen, von Philipp Schaefer entworfenen und 1927 bis 1929 errichteten Karstadt- Gebäude, einem in seiner Zeit international beachteten Warenhausbau.
Fehrbelliner Platz: Verwaltungszentrum des Südwestens
Durch die einseitige Aufmerksamkeit auf das neue, lediglich gezeichnete Zentrum der Reichshauptstadt geriet die reale Bautätigkeit der nationalsozialistischen Diktatur oft aus dem Blickfeld – etwa der streng gestaltete Fehrbelliner Platz, das bedeutendste auch realisierte neue großstädtische Zentrum der NS-Zeit.
Marzahner Promenade:
Stolz des fernen Ostens
Weit im Osten Berlins, für viele Bewohner des westlichen Teils der Stadt immer noch wenig bekannt, entfaltet sich parallel zur Landsberger Allee, früher Leninallee, das vielleicht ambitionierteste Zentrum einer Großsiedlung aus der DDR-Zeit: die Marzahner Promenade.