Berlin-Brandenburg 2070 – Die Zukunft der Großzügigkeit
Engere Wahl und nicht prämierte Beiträge
Verfasser
urban essences Standort: Berlin www.urban-essences.com Team: Andreas Kriege Dipl.-Ing. Architekt, Hürth; Niklas Roser, Student Stadtplanung, Cottbus; Erimar von der Osten, Berlin Landschaftsplanung: Keller Damm Kollegen GmbH, München Fachplanung weiterer Disziplinen: Hoffmann-Leichter Ingenieurgesellschaft (Verkehrsplanung), Berlin
TEILRAUM 1 – HISTORISCHE MITTE „AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT“
TEILRAUM 2 – TEMPELHOFER FELD „URBANITÄT ALS RESSOURCE“
TEILRAUM 3 – GARTENREICH „DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT“
Erläuterungen der Verfasser
BERLIN-BRANDENBURG 2070 – DIE ZUKUNFT DER GROSSZÜGIGKEIT VERTIEFUNG DES GESAMTPLANS – Die sternförmige Stadtstruktur Berlins wird ergänzt um weitere übergeordnete Prinzipien: 1. Plug-in-Region: Ein op-timal erschlossenes / versorgtes Netz von Siedlungskernen fördert Umland-beziehungen und entlastet das Zentrum. Die Entwicklungsachsen von Berlin nach Hamburg, Leipzig / Halle und Frankfurt / Oder werden infrastrukturell er-tüchtigt und strahlen auf das Umland aus. 2. Berlin Metropole: Das Profil des Berliner Stadtkerns als inspirierendes Herz einer vitalen Weltstadt wird ge-schärft. Eine stadtklimatisch / sozial bewusste Verdichtung und Qualifizie-rung intensiviert seine urbane Atmosphäre. 3. Gartenreich Brandenburg: In der Zone der äußeren Verkehrsringe entsteht ein Zusammenhang von Park-, Wege- und Blickbeziehungen. Wald- und Wasserflächen werden ergänzt, Re-gionalparks miteinander verknüpft, die Biodiversität wird gefördert, eine öko-logisch reformierte Land- und Forstwirtschaft harmonisch eingebettet in das tradierte Brandenburger Landschaftsbild. Erweiterungsoptionen für das Gar-tenreich bestehen unter Einschluss bestehender Biosphärenreservate nord-östlich als transeuropäisches Projekt mit Szczecin / Polen und südöstlich in Richtung des Cottbuser „Ostsees“. 4. Zwischenstadt: Zwischen Metropole und Gartenreich sind individuell-lokal vielfältig unterschiedliche Funktionen und Atmosphären möglich – frei von übergeordneten Leitbildern. 5. Neue Hoch-bahn: Ein neues Hochbahn-System ersetzt die heutige S- und Regionalbahn und erschließt Stadt und Region maximal komfortabel und effizient. Weitere Verbindungen entstehen ohne zusätzlichen Flächenverbrauch über oder ent-lang von Autobahnen und Bundesstraßen.
TEILRAUM HISTORISCHE MITTE –> AUF DER SUCHE NACH DER VERLORE-NEN ZEIT – „Alle diese aneinandergefügten Erinnerungen bildeten eine Art Masse. Dennoch gab es zwischen den älteren und den neueren – solchen, die eigentlich Erinnerungen anderer Menschen waren, von denen ich sie erst übernahm – wenn nicht gerade Risse oder richtige Brüche, so doch kleine Spalten oder wenigstens Änderungen und farbliche Unterschiede, wie sie bei manchen Gesteinsbildungen – besonders bei den Marmorarten – auf die Ver-schiedenheit des Ursprungs, des Alters oder der Formation zurückzuführen sind.“ (Marcel Proust, À la recherche du temps perdu) – Die ideologische Auf-ladung der Historischen Mitte Berlins wird aufgelöst zugunsten des Primats stadträumlicher Qualität. Die zentralsymmetrische Rauminszenierung der „Hauptstadt der DDR“ wird ebenso überwunden wie die nostalgische Idee einer „Altstadt-Rekonstruktion“. Erhaltenswerte Bauten werden um neue Bau-strukturen, Straßen und Platzräume ergänzt. Langfristig als nicht erhaltens-wert eingestufte Bauten werden zur Disposition gestellt. Einstmals in der His-torischen Mitte verortete Institutionen wie die Synagoge in der Rosenstraße oder die Zentralmarkthallen am Bahnhof Alexanderplatz werden in zeitgenös-sischer Interpretation wieder aufgegriffen. Der Fernsehturm wird eingebun-den in ein skulptural abgestimmtes Hochhausensemble. Neue Angebote der Hochkultur verändern das heute banal-kommerzielle Ambiente. Die bewusst ohne Zeitplan verkehrenden „Gartenreichfähren“ verbinden das Zentrum mit dem Gartenreich und laden zur Entschleunigung ein.
TEILRAUM NEUES STADTQUARTIER TEMPELHOFER FELD –> URBANITÄT ALS RESSOURCE – Mehr als lediglich die Befriedigung prognostizierter Flä-chenbedarfe, die naturgemäß zeitweise wachsen und auch wieder schrumpfen können, ist eine vitalisierende Weiterentwicklung der Atmosphäre und Aus-strahlung Berlins das Ziel der vorgeschlagenen neuen Stadtquartiere: Leben-dige Urbanität fördert Effizienz und Nachhaltigkeit, sozialen Austausch und Zusammenhalt, Inspiration und Experiment. Voraussetzungen ihrer Entfaltung sind ein nahtloser Zusammenhang qualitätvoller öffentlicher Räume, eine per-fekte Anbindung an komfortablen ÖPNV, für Einzelhandel / Gastronomie und Dienstleistungen geeignete Erdgeschosszonen, die bewusste Kultivierung der öffentlichen Sphäre der Stadt und ihre eindeutige Abgrenzung vom Privaten. – Wie für die Historische Mitte sehen wir auch für das Tempelhofer Feld ge-schlossene Blockbebauung und klassische Straßen- und Platzräume vor. Eng li-mitierte Parzellengrößen erzeugen ein lebendiges Stadtbild und ermöglichen eine kleinteilig gemischte Eigentümerstruktur. Die kontrastreiche Höhenstaf-felung der neuen Gebäude erlaubt die Verdichtung unterschiedlichster Funk-tionen, Atmosphären und Raumqualitäten und erzeugt ein heiter-spielerisches Stadtbild. Im räumlichen Dialog mit dem historischen Flughafengebäude kann ein neues, flexibel wandlungsfähiges Fußballstadion für Berlin entstehen (Um-wandlung zu großer Parkbühne durch verschiebbare Tribünen möglich). Im südlichen Bereich verläuft anstelle von A 100 und S-Bahn der neue, sämtliche Verkehrsarten in einem einzigen großzügigen Stadtraum integrierende Ring-Boulevard rund um die Innenstadt. Die zentral positionierte Gartenreich-Markthalle bietet nachhaltig produzierte Erzeugnisse aus dem Umland Berlins.
TEILRAUM GARTENREICH BRANDENBURG / LUISENLANDSCHAFT –> DIE ENTDECKUNG DER LANGSAMKEIT – „Nun nahm sich John die Uhr von St. James vor. Das Zifferblatt war an der Seitenkante des dicken Turms auf den Stein gemalt. Nur einen Zeiger gab es, und der musste dreimal am Tag vorgerückt werden. John hatte eine Bemerkung gehört, die ihn mit dem eigensinnigen Uhrwerk in Verbindung brachte. Verstanden hatte er sie nicht, aber er fand seitdem, die Uhr habe mit ihm zu tun.“ (Sten Nadolny, Die Entde-ckung der Langsamkeit) – Soll Berlins Metropolenherz zunehmend im engen Takt intensivierter Urbanität schlagen, bedarf es zum komplementären Aus-gleich eines betont „langsamen“ Gegenpols. Diese Grundidee des Garten-reichs wird hier anhand eines Areals nordwestlich von Potsdam exemplarisch veranschaulicht: Die nahezu vollständig von Wasser umgebene Fläche befin-det sich noch im Wirkungsbereich des Potsdamer Weltkulturerbes und liegt zugleich in der für die Ventilation und Kühlung der Stadt bedeutsamen West-windzone. Durch die neue Hochbahn über der A 10 optimal angebunden, kann sie einen der ersten Trittsteine des Gartenreichs ausbilden. – Eine Besonder-heit dieser Gegend liegt in ihrer Historie als dem westlich angrenzenden Schloss Paretz zugeordnetes ehemaliges Landgut: Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise ließen sich 1798 diesen für seine Zeit außergewöhnlich beschei-denen Sommersitz errichten. Ihr legendär „moderner“ Geist spiegelt sich wi-der in der entspannten Gelassenheit der Havellandschaft und der Lennéschen Landschaftsgärten. Letztere schmückten nicht nur die Königsschlösser, son-dern auch unzählige größere und kleinere Güter der Mark Brandenburg, die heute vielfach dem Verfall ausgesetzt sind. Das Konzept des Gartenreichs be-inhaltet die Chance, dieses kulturlandschaftliche Erbe vor dem völligen Ver-schwinden zu bewahren und neu zu vitalisieren. Für den Gartenreich-Park bei Paretz schlagen wir als Hommage an seine Geschichte den Namen „Luisen-landschaft“ vor. – So wie das Gartenreich als Ganzes beinhaltet die Luisen-landschaft ein ökologisch-klimabezogenes Moment, zudem eine ästhetische Dimension, die Kultur, Geschichte, Freizeit und Erholung mit einschließt, und schließlich Flächen für eine Renaissance des diese Region traditionell prä-genden kleinteiligen Gemüse- und Obstanbaus. Eine an Matisse angelehnte Landschaftsinszenierung aus Lavendelfeldern umfließt die sanfte Topografie, bindet alle drei Themen gestalterisch zusammen und schafft ein unverwech-selbares Signet für diesen Ort. Eine „Gartenreich-Akademie“ im Norden dient zur Vermittlung von Wissen über Natur und Landschaft. Unmittelbar östlich der Hochbahn-Station entsteht ein Innovationscampus für Forschung und Ent-wicklung mit zukunftsweisenden Arbeitsplätzen für die Region. „Gartenreich-fähren“ verbinden den Park und das Gartenreich mit der Stadt und laden zur Wiederentdeckung der Langsamkeit ein. Das Erleben landschaftlicher Schön-heit vermag Menschen emotional an Orte zu binden, Interesse zu wecken für Natur und Geschichte, Engagement zu motivieren für eine intakte Ökologie und eine lebenswerte Heimat.
STRATEGIEN ZUR REALISIERUNG –> KLEINTEILIGE VERANTWORTUNGSKUL-TUR UND NATIONALE LEUCHTTURMPROJEKTE – In Berlin entstehen heute Großprojekte, die den Maßstab der die Stadt prägenden Gründerzeit negieren und sie einer globalen Austauschbarkeit ausliefern. Auch in der Landwirtschaft Brandenburgs vollziehen sich zunehmend eine Konzentration und eine primiti-ve Ökonomisierung. Ausgeräumte Landschaftsbilder und die Entwertung von Boden, Wasser und Artenvielfalt sind die Folgen. Für Innenstadt wie Umland plädieren wir daher für eine Entwicklung zurück zu intelligenter Kleinteiligkeit und persönlicher Verantwortung. In den neuen Stadtquartieren setzen wir auf ein enges Größenlimit für Parzellen. Erbpacht-Modelle können dazu beitragen, den Einfluss gesamtgesellschaftlicher Bedürfnisse auf die Nutzung von Grund und Boden langfristig zu erhalten. In Umland und Region schlagen wir eine Rück-überantwortung von Souveränität auf die Dorfebene vor und die Aufteilung übergroßer Agrarbetriebe in überschaubare Einheiten. – „Berlin Metropole“ und „Gartenreich Brandenburg“ erheben einen besonderen Anspruch, der ein stark ausgeprägtes kulturelles Bewusstsein in Gesellschaft, Politik und Verwal-tung voraussetzt. Leuchtturmprojekte sind ein Mittel, um Impulse zu setzen und den Zeitgeist zu verändern. „Berlin Metropole“ und „Gartenreich Bran-denburg“ könnten in diesem Sinne als langfristig angelegte nationale Leucht-turmprojekte entwickelt werden: räumlich begrenzte Sonderzonen, in denen ein Regime spezifischer Prioritäten herrscht und bereits in kurzer Zeit außer-gewöhnliche Qualitäten anschaulich werden sollen. Je heller diese Projekte leuchten, desto stärker beeinflussen sie die allgemeine Wahrnehmung. Im bes-ten Fall schaffen sie damit sukzessive selbst die Voraussetzung ihres Erfolgs. Seit dem Aufstieg Berlins ist dieses Spannungsverhältnis ein wichtiger Faktor für die Ausbildung lokaler Identitäten. In Berlin selbst lässt sich ein ähnliches geladenes Verhältnis zwischen den Bezirken und Kiezen beobachten. Diese ‚Kultur des Unterschieds‘ ist eine der Stärken von Berlin und Brandenburg, die nicht nur aus Lokalpatriotismus besteht, sondern sich immer auch auf die vor Ort vorhandenen Möglichkeiten bezieht und diese weiterentwickelt. Gerade Orte im Berliner Umland können hier Stärken ausspielen, die Berlin nicht bie- ten kann. Unser Vorschlag: Schaffen von Clustern von Orten, die eine Stärke ins Zentrum rücken – Natur mit Kultur, nachwachsende Rohstoffe oder Wissen. Sie sind die Einheiten einer neuen Lebens-, Bildungs- und Produktionswelt. Sowohl virtuell als auch räumlich gut vernetzt mit dem Nahverkehr, bieten sie, was die großen, etablierten Sterne nicht im Angebot haben. Als offene Sys- teme können sie zu Sternbildern wachsen, die nicht nur regionale Bedeutung haben, sondern sichtbares Zeichen in der Welteninsel sind.