Die Welteninsel Berlin Brandenburg 2070 – Vom Stern zur Galaxie
Engere Wahl und nicht prämierte Beiträge
Verfasser
MLA+ Berlin (Müller Michael Architekten PartGmbB) / MLA+ Rotterdam (MLA+ B. V.) / manufacturing cities Hamburg / HOSPER landschapsarchitectuur en stedenbouw Standort: Berlin / Hamburg / Rotterdam www.mlaplus.com www.manufacturingcities.com www.morelandscape.nl Team: Markus Appenzeller, Martin Probst, Christoph Michael, Maximilian Müller, Robert Younger, Ildar Biganyakov, Kai Michael Dietrich Fachplanung weiterer Disziplinen: MORE Landscape (Hanneke Kijne, ehem. Hosper landschapsarchitectuur en stedenbouw), Martin Aarts, Uli Hellweg, Studio Amore (Burke Harmel Jank GbR), Sven Kröger
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DENKMODELL 2
DENKMODELL 3
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DENKMODELL 6
Erläuterungen der Verfasser
Die Welteninsel Berlin Brandenburg 2070 – Vom Stern zur Galaxie: Vieles ist heute unsicher. Wie werden wir in 50 Jahren leben? Wie wird der Klimawan-del unsere Städte verändern? Wie werden Städte geführt? Diese Fragen las-sen sich nur schwer für lange Zeiträume zuverlässig definieren. Technologie, Urbanisierung und sozio-ökonomische Entwicklungen verändern Agglomera-tionen immer schneller, und eine Veränderung dieser Dynamik scheint un-wahrscheinlich. Berlin und sein Umland sind beides: gebaute – oder eben nicht gebaute – Realität, aber auch Lebensgefühl und Denkweise. Gerade die letzten 100 Jahre und gerade Berlin zeigen, dass sich das Gebaute und das Geplante radikal, geradezu revolutionär verändern können. Berlin und Brandenburg als Denkbilder – als State of Mind – entwickeln sich evolutionär. Sie verbinden mühelos Fontane und Berghain, Humboldt und Scharoun oder Schinkel und Eberswalde. Was muss eine Zukunftserzählung 2070 für Berlin und das Brandenburger Umland darum leisten? Wir meinen: Sicher etwas an-deres als die Leitbilder des Wettbewerbs von 1910. Sie muss nicht präzise räumliche Vorgaben machen, sondern vor allem Denkbilder erzeugen. Diese Bilder nehmen das spezielle Berlin-Brandenburger Lebensgefühl auf, stärken es und erweitern es wo notwendig. Sie laden das, was diese Region ausmacht, positiv auf. Deshalb verzichtet unser Vorschlag auf detaillierte Pläne und er-setzt sie durch sechs strategische Narrative, die zu einem großen Gesamtbild zusammengeführt werden.
Leitbild. Der Stern ist das aktuelle Leitbild der Stadtentwicklung Berlins. In seiner Struktur wird er dem Wesen des Agglomerationsraums nicht gerecht. Berlin war nie eine monozentrische Stadt. Das Umland hat selbst veritable Zentralitäten, denen man mit dem singulären Bild des Sterns nicht gerecht werden kann. Wir schlagen deshalb die Welteninsel Berlin-Brandenburg als neues Leitbild vor. Als Begriff geprägt von Alexander von Humboldt, ent-spricht sie nicht nur mehr dem polyzentrischen Berlin und seinem Branden-burger Umland, sondern ist auch tief lokal verwurzelt. Die Welteninsel ist dy-namisch, lässt Raum für neu entstehende Zentralitäten, die heute noch nicht absehbar sind, und fördert auch die Stärkung bestehender Zentren. Die Wel-teninsel kennt Masse und Leere, Lebensräume, Sternbilder, Sternenstaub, Gravitation und Umlaufbahnen. Phänomene, die wir in Berlin-Brandenburger Narrative überführt haben
100 % Stadt 100 % Landschaft. Der Westen Berlins war lange eine Großstadt ohne Hinterland. Freiraum war ein knappes Gut, das geschützt wurde. Die In-sellage erzeugte Extreme: hohe städtische Dichte hier, Leere und Landschaft jenseits des Grenzzauns. Im Osten Berlins entstanden – aus dem sozialistischen Städtebau heraus – an vielen Stellen ähnliche Raumkonstellationen. Heute ha-ben Berlin und Brandenburg deshalb eine einzigartige Beziehung, die eine der Schlüsselqualitäten der Region ist. Sie ist nicht geprägt von einer endlosen suburbanen Zone. Hier treffen Extreme aufeinander, die es so am Rand keiner anderen Metropole gibt: 100 % Stadt hier – hohe Dichte, städtisches Flair und vom Menschen dominierte Räume – und 100 % Landschaft dort – geringe Dich-te und ländliche Naturräume. Unser Vorschlag: Unbewusst und ungeplant hat sich die Welteninsel eine Entwicklungsstrategie von 100 % Stadt, 100 % Land-schaft geschaffen, die zukünftigen Herausforderungen von Klimawandel über Energiewende bis hin zum Erhalt von natürlichen Lebensräumen in idealer Wei-se gerecht werden kann. Sie sollte nicht nur am Rand der einzelnen Siedlungs-kerne genutzt werden, sondern auch an den inneren Peripherien. Große freie Flächen sollten frei bleiben: Parks, Brachen, ungenutzte Industrie- und Bahn-gelände. Berlin und die Städte und Dörfer um Berlin können sich nach innen verdichten – Platz ist vorhanden, man muss ihn nur effizient nutzen.
Das (sic!) blaue Archipel. Berlin ist eigentlich eine Stadt am Wasser, Branden-burg ist eine Wasserlandschaft. Beide nutzen diese Qualitäten zu wenig. Es gibt keine starke Beziehung beider, denn Wasser verbindet nur, wenn die Räume, in die das Wasser eingebettet ist, erlebbar sind und Verbindungen erlauben. Unser Vorschlag: Wasserverbindungen zwischen Berlin und seinem Umland werden verstärkt und erweitert. Die Hauptausfallstraßen und Achsen Berlins werden so modifiziert, dass hier neue ‚Aquamagistralen‘ entstehen. Die neuen und die bestehenden Wasserläufe werden durch begleitende Ökosysteme und durch Rad- und Fußverkehrsnetze zum Tor zum blauen Archipel. Wasser und Natur durchdringen Berlin und erhöhen die Resilienz. In Berlin entsteht ein öffentlicher Raum, der nicht nur grünblaue Qualitäten der Stadt hinzufügt, sondern Berlinern den Zugang zur Brandenburger Landschaft ermöglicht. Die Sternbilder. Berlin wäre nicht Berlin ohne Potsdam, Bernau oder Orani-enburg. Brandenburg wäre nicht Brandenburg ohne Berlin in seiner Mitte. Seit dem Aufstieg Berlins ist dieses Spannungsverhältnis ein wichtiger Faktor für die Ausbildung lokaler Identitäten. In Berlin selbst lässt sich ein ähnliches geladenes Verhältnis zwischen den Bezirken und Kiezen beobachten. Diese ‚ Kultur des Unterschieds‘ ist eine der Stärken von Berlin und Brandenburg, die nicht nur aus Lokalpatriotismus besteht, sondern sich immer auch auf die vor Ort vorhandenen Möglichkeiten bezieht und diese weiterentwickelt. Gerade Orte im Berliner Umland können hier Stärken ausspielen, die Berlin nicht bie-ten kann. Unser Vorschlag: Schaffen von Clustern von Orten, die eine Stärke ins Zentrum rücken – Natur mit Kultur, nachwachsende Rohstoffe oder Wissen. Sie sind die Einheiten einer neuen Lebens-, Bildungs- und Produktionswelt. Sowohl virtuell als auch räumlich gut vernetzt mit dem Nahverkehr, bieten sie, was die großen, etablierten Sterne nicht im Angebot haben. Als offene Sys-teme können sie zu Sternbildern wachsen, die nicht nur regionale Bedeutung haben, sondern sichtbares Zeichen in der Welteninsel sind.
Der neue Himmel über Berlin. Die Veränderung des Weltklimas ist fossilen Brennstoffen geschuldet, die irgendwann zur Neige gehen werden. Städte müssen ihren Energie- und Nahrungsmittelbedarf anders stillen – nicht an fer-nen Orten, sondern in der Region oder in der Stadt selbst. Dabei sollte kein Quadratmeter zusätzlich versiegelt werden und möglichst viel Fläche mehr-fach genutzt werden. Unser Vorschlag: Die Gebäude in der Welteninsel haben eine fünfte Fassade – die Dächer, die kaum genutzt werden. Sie können zur Energie- und Nahrungserzeugung aktiviert werden. Beinahe 50 Prozent des heutigen Stromverbrauchs von Berlin würden sich über Solarnutzung decken lassen. Viele der Flachdächer in Berlin könnten darüber hinaus als Dachacker zum Anbau von Gemüse genutzt werden. Biogas könnte in lokalen Ballons ge-speichert werden. Großkraftwerke und -märkte werden ersetzt durch Energie-produktionsnetzwerke und städtische Landbaugenossenschaften. Der neue Himmel über Berlin ist dann nicht mehr grau und menschenleer, sondern grün und voller Leben. Im Berliner Umland können die omnipräsenten ehemaligen Militärstützpunkte zu hochverdichteten Produktionsstandorten für Nahrung und Energie umfunktioniert werden. Durch ihre Kompaktheit und den industri-ellen Maßstab entstehen hier die Energiezentralen des postfossilen Zeitalters. Die Stadt, die immer wird und niemals ist. Berlin ist eine Stadt, die niemals fer-tig sein wird. Darum wird auch Brandenburg niemals fertig sein – niemals fer-tig sein können. Dies gilt sowohl räumlich als auch in Bezug auf seine Bewoh-ner. Sie wollen mitreden und mitbestimmen. Sie wollen ihre Stadt und ihre Landschaft gestalten. Jeder ist Kiez, Berlin oder Brandenburg. Die Bewohner können eine wichtigere, ja sogar die entscheidende Rolle in der Stadt- und Regionalentwicklung spielen. Unser Vorschlag: Stadt und Region werden in Makro- und Mikrozonen unterteilt. Die Makrozonen sind die Teile, die für das Funktionieren des Ganzen unabdingbar sind: große Naturräume, Hauptstra-ßen-Netze, Nahverkehr, Versorgungsnetze, insofern sie nicht dezentral orga-nisiert werden können, und strategische Industrieflächen. Die Mikrozonen sind die Viertel, die Kieze, die Dörfer. Planung und Unterhalt der Makrozonen ob-liegen den lokalen oder regionalen Regierungen. Die Mikrozonen werden von ihren Bewohnern mithilfe einer professionellen Verwaltung selbst gesteuert. Moderne Technologie – Internet und Mobilfunknetzwerke – wird genutzt, um jeden Bewohner einzubinden in die Beschlussfassung. Wenn jeder Kiez auto-nom wird, entsteht so ein Wettbewerb zwischen den Kiezen. Diese können wählen, wie sie sein wollen: grün-ruhig oder städtisch-lebendig, wirtschafts-freundlich oder eher sozial. Aus der Stadt der Kieze und der Landschaft der Dörfer und Kleinstädte kann so ein buntes Bild verschiedener Gravitationszo-nen für urbanes menschliches Zusammenleben in der Welteninsel entstehen. Die Materialumlaufbahnen. Bauen ist mit hohem Energieaufwand verbun-den. Zement muss gebrannt, Stahl geschmiedet und Kunststoff synthetisiert werden. Wird ein Gebäude renoviert oder abgerissen, wandern diese Stof-fe auf die Deponie. Ein solcher Umgang mit Materialien ist weder sinnvoll noch nachhaltig; die Knappheit von nicht erneuerbaren Rohstoffen führt heu-te schon zum Denken in Materialkreisläufen und zu einer Verschiebung hin zu erneuerbaren, pflanzlichen Rohstoffen. Dadurch entsteht auch ein neues Ver-hältnis zwischen der städtischen Metropole Berlin und ihrem Brandenburger Umland. Unser Vorschlag: Regionale Rohstoff- und Baustoffkreisläufe sollten etabliert werden. Baustoffe für Berlin kommen nicht mehr aus fernen Ländern, sondern werden regional erzeugt. In neuen, hochtechnisierten Produktions-stätten wird lokales Holz zur Hauswand. Einmal produziert, werden diese und andere Bauteile katalogisiert in Datenbanken. Sie werden nicht mehr weg-geworfen, sondern warten – wenn nicht mehr genutzt – in speziellen Bau-teillagern auf eine zweite, dritte oder vierte Nutzung. So entstehen ‚Mate-rialumlaufbahnen‘, die – wenn einmal erreicht – mit minimalem Energie- und Materialaufwand in Gang gehalten werden können.